DEZEMBER 2015 - Spuren auf Papier

Es gibt Orte, die verschwinden. Orte werden getilgt von der Landkarte, aus den Medien, aus dem Wissen der Nachfahren. Aber es bleiben Spuren. Zum Beispiel im Archiv.

Die Siedlung Heßwinkel verschwand in den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Heßwinkel lag am Südrand des Hainichs, etwa mittig zwischen Hütscheroda und dem Alten Berg.

Verschwundene Orte werden Wüstungen genannt. Wüstung bedeutet, der Ort wurde wüst. Das Wort wüst hieß im Althochdeutschen noch „wuosti" im Mittelhochdeutschen schon „wüste" und bedeutet bis heute „leer und öde". Aus verschiedenen Gründen verließen die Einwohner oder Nutzer die Gebäude oder das Gelände. Die Siedlung wurde wüst. Die Ursachen waren nicht unbedingt Krieg oder Zerstörung. Oft versiegten auch die Brunnen oder Quellen. Meist erinnern die Flurnamen an die aufgegebenen Orte. Aber auch durch politische Entscheidungen verschwinden Siedlungen und Dörfer.

Diese Archivalie des Monats soll anhand von drei Akten des Kreisarchivs zeigen, wie viel herausgefunden werden kann nur durch Recherche in einem Archiv.

Aus drei Akten des Kreisarchivs des Unstrut-Hainich-Kreises bilden sich Konturen eines Dramas. Der Titel könnte lauten: Versuch und Scheitern der Siedlung Heßwinkel. Es bleiben viele Details und Fragen offen. Vielleicht möchten Sie weiter forschen?

Die drei Akten:

  • „Antrag auf Gründung einer selbstständigen Gemeinde Hütscheroda. Enthält auch: Schriftwechsel und Probleme der Siedler. 1946 - 1947."
    Signatur: Großenbehringen 11-1/9
  • „Aufstellung der Landwirtschaftlichen Nutzflächen, die infolge der Inanspruchnahme durch den Übungsplatz nicht bearbeitet werden."
    Signatur Großenbehringen 11-8/1
  • „Behringen. Ortsteil Hütscheroda - Heßwinkel. Umsetzung von Wohnhäusern nach Behringen. 1971"
    Die Signatur lautet B 399.


Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg siedelten im Vorwerk Heßwinkel Flüchtlinge und Umsiedler aus verschiedenen ehemaligen deutschen Ostgebieten. Sie wollten und sollten von der Landwirtschaft leben. Das Vorwerk gehörte zur Gemeinde Großenbehringen, heute Behringen im Wartburgkreis.

Wald und Flur in der unmittelbaren Nachbarschaft Heßwinkels nutzte die Rote Armee für militärische Übungen. Das war für landwirtschaftliche Betriebe keine angenehme Nachbarschaft. Davon berichtet ein Brief vom Juli 1947 an den Kreisrat von Gotha. Das ist die Archivalie des Monats:

Zum Vergrößern anklicken!„Seit 4 Tagen ist ein Teil der Hütscherodaer Flur [nahe Heßwinkel] durch Posten für jede Annäherung abgesperrt. Die Siedler können dadurch nicht auf ihr Feld und die dringenden Erntearbeiten (Raps, Gerste, Roggen) vornehmen. An verschiedenen Stunden des Tages wird auch geschossen. Was soll hier geschehen ? und wie wird der Ausfall an den Erzeugnissen gutgebracht ?" (Akte Großenbehringen 11-1/9)

Der Brief hat nichts genützt. Aus dem Jahr 1948 ist folgendes überliefert: „Aufstellung der Landwirtschaftlichen Nutzflächen, die infolge der Inanspruchnahme durch den Übungsplatz nicht bearbeitet werden." (Akte Großenbehringen 11-8/1) Der Truppenübungsplatz war also eingerichtet.

Unter diesen Bedingungen fiel es den Siedlern immer schwerer, als Bauern zu leben. Einige Siedler schienen auch von der Landwirtschaft überfordert zu sein. Wie in verschiedenen Berichten zusammengefasst wird, hatten einige Siedler „ihr Land nicht in Ordnung".

Aus Berichten, Aktennotizen und Briefen wird deutlich: Die von der Sowjetischen Militärregierung und später von den DDR-Behörden geforderte Abgabemenge von der Ernte wurde meist nicht erreicht. Außerdem wurde die Dreschmaschine nicht genutzt, die den Bewohnern von Heßwinkel und Hütscheroda zur Verfügung gestellt worden war. Das sorgte für Verstimmung.

Dazu kamen nachbarschaftliche und zwischenmenschliche Probleme. Aus einem Brief des Landrates des Kreises Gotha an den Bürgermeister von Großenbehringen vom 27. September 1947 heißt es:

„Frau K[...] führt aus, dass der tatsächliche Störenfried in Heßwinkel eine Frau G[...] sei. Sie [der Bürgermeister] wollen gemeinsam mit dem Wachtmeister, die Sache untersuchen. Sollte es sich bei Frau G[...] tatsächlich um eine notorische Unruhestifterin handeln, dann muß auch sie aus diesem Bereich verschwinden." (Akte Großenbehringen 11-1/9)

 

Weiter schreibt der Landrat an den Bürgermeister:

„Ich schlage Ihnen vor, gemeinsam mit dem Vorstand der VdgB [Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe] und noch einigen Sachverständigen, aber auch energischer Bauern, eine Versammlung der Neusiedler und Bauern in Hütscheroda einzuberufen. In dieser Versammlung wollen Sie den Siedlern in meinem Namen mitteilen, daß es so, wie es bisher gegangen ist, keinesfalls mehr geduldet werden kann. Wenn nicht umgehend geordnete Verhältnisse eintreten, dann werde ich die gesamte Siedlergemeinschaft auflösen und in Hütscheroda wie in Heßwinkel eine Neuverteilung der Siedlerstellen vornehmen." (Akte Großenbehringen 11-1/9)

Trotzdem blieben die Siedler dran. Wie aus Schriftstücken in der der Akte „Großenbehringen 11-1/9" hervorgeht, beantragten 1946/47 die Siedler in Hütscheroda und Heßwinkel, dass aus die beiden Siedlungen eine eigenständige Gemeinde gebildet werden solle. (Akte Großenbehringen 11-1/9).

Der Gemeinderat von Großenbehringen schreibt dazu am 29. Januar 1947 an den Kreisrat des Kreises Gotha:

„Leider hat sich durch die Einbeziehung eines größeren Teiles der landwirtschaftlich genutzten Fläche und fast des gesamten Waldes in den Exerzierplatz [Truppenübungsplatz der Roten Armee] die Gründung einer selbstständigen Gemeinde Hütscheroda [mit Heßwinkel] zerschlagen. Die Siedler denken unter den Verhältnissen nicht mehr daran, eine selbstständige Gemeinde zu gründen."

Weitere Unterlagen in der Akte B 399 zeigen: 1948 und 1949 wurden in Heßwinkel Wohn- und Wirtschaftsgebäude genehmigt und errichtet.

In den Akten des Kreisarchivs stoßen wir erst 1971 wieder auf Spuren von Heßwinkel. Im Kreisarchiv des Unstrut-Hainich-Kreises findet sich eine Akte aus dem Bestand des ehemaligen Rates des Kreises Bad Langensalza, so hieß die Kreisverwaltung während der DDR-Zeit. Einige Zeit lang gehörte die Gemeinde Behringen mit den Ortsteilen Hütscheroda und Heßwinkel zum Kreis Bad Langensalza und zum Kreis Gotha. Die Akte trägt den Titel „Behringen. Ortsteil Hütscheroda - Heßwinkel. Umsetzung von Wohnhäusern nach Behringen." Die Signatur lautet B 399.

Der Bürgermeister der Gemeinde Behringen, zu der Heßwinkel gehörte, schreibt 1971 an die Kreisplankommission des Rat des Kreises Bad Langensalza.

Kreisplankommission? Diese Einrichtung war im Kreis verantwortlich für die Erfüllung des Planes. Die Wirtschaft sowie das öffentlich-staatliche Tun und Treiben in der DDR wurde beherrscht von Plänen. Betriebe, Institutionen, Kollektive und sogar Einzelne sollten Pläne umsetzen, Planziele erreichen. Planerfüllung oder gar Übererfüllung waren die großen gesellschaftlichen Ziele.

Im erwähnten Brief des Bürgermeisters von 1971 an die Kreisplankommission heißt es:

„Auf Grund des vorhandenen angrenzenden [militärischen Truppen]Übungsplatzes an die Ortsteile Hütscheroda und Heßwinkel ist ein Zuzug von Familien in die dort leerstehenden Wohnhäuser nicht vertretbar und auch nicht zugelassen." (Akte B 399)

Aus der Akte kann nicht geschlossen werden, warum der Bürgermeister an die Kreisplankommission schrieb. Der Bürgermeister informiert, in Heßwinkel stünden vier Wohnhäuser leer. Er schlägt vor, diese Wohnhäuser „Familien zum Abbruch zu übergeben". In Großenbehringen und Österbehringen sollten die dann wieder aufgebaut werden. Mit der Umsetzung der Häuser spare die Gemeinde laut Bürgermeister die jährlichen 40.000 Mark („40,- TM") Kosten für die Straße. Wegfallen könne auch die Busverbindung, die schon 1971 bei Eis und Schnee nicht bis zur Siedlung geführt habe. (Vgl. Akte B 399)

Diese Ausgrenzung der Siedlung Heßwinkel hatte Folgen. Wohnten 1970 noch 19 Menschen dort, war es 1975 noch eine Familie. Das geht hervor aus dem Entwurf eines Schreibens des Vorsitzenden des Rat des Kreises an einen Bürger, der im Januar 1989 bei der Tageszeitung DAS VOLK nach dem Schicksal von Heßwinkel gefragt hatte. Der Bürger reagierte damit auf einen Artikel in der Eisenacher Ausgabe der Zeitung. Im Brief heißt es:

„Mit großem Interesse las ich in der Ausgabe [der Zeitung] vom 19.1.1989 den Beitrag 'Bauern setzen sich zur Wehr´. Ein ganzes Dorf verschwand vom Erdboden. In diesem Zusammenhang interessieren mich und sicher auch viele Bürger dieses Kreises [Eisenach] und des Kreises Bad Langensalza nähere Angaben über das Verschwinden des Dorfes 'Heßwinkel´ vor ca. 10 - 15 Jahren. Vielleicht können Sie dazu ebenfalls etwas veröffentlichen." (Akte B 399)

Der stellvertretende Vorsitzende des Rat des Kreises entwarf für den Vorsitzenden einen Brief an den Bürger. Der Entwurf sowie die erwähnten Akten können im Kreisarchiv eingesehen werden.

Heute erinnert nur noch ein Denkmal an die Siedlung Heßwinkel.

 

Michael Zeng

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