Der Reichsminister des Inneren, Wilhelm Frick (NSDAP) erließ am 1. Oktober 1935 eine seltsames Rundschreiben an alle Polizeibehörden des „Dritten Reiches“. Diese Archivalie findet sich im Bestand der Gemeinde Niederdorla unter der Signatur 2/6.
Der Innenminister erklärte: Der notleidenden Musikindustrie des Reiches drohe Gefahr durch die Abwanderung von Mundharmonikastimmern, die nach Brasilien abwandern wollten. Die Passbehörden des Reiches wurden angewiesen, Mundharmonikastimmern keine Pässe auszugeben oder vorhandene Pässe einzuziehen. Mundharmonikastimmer sollten nicht aus dem Land gelassen werden. Auch der Wirtschaftsminister des Deutschen Reiches befürwortete diese Regelung.
Warum wurde dieses Rundschreiben erlassen? Und was hat es auf sich mit den Mundharmonikastimmern? Eine Nachfrage beim Bundesverband der Deutschen Musikinstrumentenindustrie brachte wenig. Ergiebiger war ein Gespräch mit dem Musikinstrumentenbauer Johannes Thoß, der in Großmehlra seine Werkstatt hat.
Soweit Johannes Thoß bekannt ist, gab es vor dem zweiten Weltkrieg in Deutschland nur zwei Gegenden, wo Mundharmonikas in größeren Stückzahlen hergestellt wurden: im sächsischen Klingenthal und inTrossingen im heutigen Baden-Württemberg.
Wenn man jetzt das Rundschreiben des Ministers nochmal genau liest, wird deutlich, welche Gegend gemeint ist. Der Reichsminister schreibt: „Der Herr Sächsische Wirtschaftsminister hat mich auf die Gefahr aufmerksam gemacht (...)“. Die Spur des Rundschreibens führt also nach Klingenthal.
Laut Musikinstrumentenbauer Thoß konnte auch in der Vergangenheit niemand allein vom Mundharmonikastimmen leben. Eine solche Tätigkeit machte nur Sinn in Verbindung mit der Herstellung dieser handlichen Blasinstrumente. Der Musikinstrumentenbauer aus Großmehlra schätzt, dass noch in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts um Klingenthal herum mehrere hundert Hersteller von Mundharmonikas ansässig waren. Meist stellten Bauern die „Mund-Hobel“ in Heimarbeit her. Nicht jeder konnte die gefertigten Stücke stimmen, also auf die richtigen Töne einstellen. Da mussten die Mundharmonikastimmer rann.
Der Bau von Musikinstrumenten hat in Klingenthal seit über 150 Jahren Tradition. Nicht umsonst wird die Gegend um Markneukirchen und Klingenthal „Musikwinkel“ genannt. Einige Familien bauen schon in der zehnten Generation Instrumente. Besonders Mundharmonikas genießen einen internationalen guten Ruf. Seit dem Jahr 2000 strömen jedes Jahr am dritten Septemberwochenende „Mundi-Verrückte“ aus der ganzen Welt nach Klingenthal zum Internationalen Festival Mundharmonika live. Jedes Jahr kommen etwa tausend Gäste. In Klingenthal steht auch die älteste Mundharmonika-Fabrik der Welt: C. A. Seydel Söhne GmbH. Auf dem Gelände des Betriebes befindet sich die „Bluesfactory“, ein internationaler „Megatreff der Mundi-Szene“.
Zurück ins Jahr 1935, als der Reichsminister Frick das Rundschreiben erließ. Ob das Rundschreiben des Ministers Wirkung zeigte und ob die Passbehörden des Deutschen Reiches auswanderwilligen Mundharmonika-Stimmern die Ausreise verwehrten, das müsste in sächsischen und anderen Archiven recherchiert werden, vielleicht sogar in Brasilien.
Interessant ist die Figur des Reichsministers des Inneren Wilhelm Frick. Er trug die NSDAP-Mitgliedsnummer zehn. Frick organisierte den NS-Staat. Er wurde nach dem Krieg in Nürnberger als Kriegsverbrecher verurteilt und hingerichtet. Fricks Reden und Äußerungen waren durchsetzt von Rassismus, Antisemitismus. Unflätig und menschenverachtend beschimpfte er politische Gegner.
Frick war Innenminister eines totalitären Regimes. Er konnte im ganzen Reich die Ortspolizeibehörden anweisen, Angehörigen einer bestimmten Berufsgruppe die Ausreise zu verweigern. Er kam anscheinend nicht auf die Idee, die Verhältnisse der Mundharmonika-Hersteller in Deutschland zu verbessern und damit die Ausreise einzudämmen.
Dass überhaupt so eine Figur wie Frick Innenminister werden konnte und wie Probleme durch staatliche Gewalt und behördliche Verweigerung gelöst wurden, zeigt die Vermessenheit des Nationalsozialismus, seiner Vertreter und überhaupt des Staates im „Tausendjährigen Reich“, das Gott sei Dank nur zwölf Jahre dauerte.
Michael Zeng