Am 10. Juli 1958 verkündete Walter Ulbricht die zehn Gebote für den neuen sozialistischen Menschen. Ulbricht war damals der Erste Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Er sprach die zehn Gebote in seiner Rede zum 5. Parteitag der SED. Am 11. Juli standen die Gebote geschrieben in den Tageszeitungen der DDR. Im Kreisarchiv erhalten in der Zeitung DAS VOLK (Signatur U18).
Da finden wir sie wieder, die kleinen Bausteine der großen Geschichte.
Ulbricht nutzt zwei Gemeinplätze, mit denen er und seine Redenschreiber hofften, die Leute zu erreichen. Er verkündet etwas werde „neu" und das geschehe durch das Befolgen von „zehn Geboten", die jeweils anfangen mit „Du sollst".
Das Wort „neu" hat für uns immer etwas Besonderes. Wenn etwas neu ist, hoffen wir immer, das Neue sei auch besser oder schöner oder weiter entwickelt als das Alte. Na gut, manche mögen auch das Bewährte.
In der Bibel verkündet der Gott Abrahams seine zehn Gebote an das israelische Volk, vergleiche 2. Mose 20.1-17. Jedes Gebot beginnt mit „Du sollst". Gott verkündet seine Gebote am Berg Sinai während des Auszugs der Israeliten aus Ägypten. Moses gab die Botschaft weiter. Laut vorsichtiger Schätzung mag das 1500 bis 1000 vor unserer Zeit geschehen sein.
Die gewaltige Szene ist uns geläufig aus dem Hollywood-Schinken „Die zehn Gebote" von 1956: Charlton Heston mit wehendem Zauselbart verkündet als Moses die Worte Gottes. Yul Brynner ersäuft als Pharao im Roten Meer.
Zwei Jahre später verwendet Ulbricht den Gemeinplatz der jüdisch-christlichen Religion. Wie das passt in den betonten Atheismus des real existierenden Sozialismus, das Urteil bleibt den heutigen Lesern überlassen.
Die SED sah sich als Partei der Arbeiterklasse im Arbeiter- und Bauernstaat. Später kam die Intelligenz dazu, spätestens, nachdem aus den Kindern der Arbeiter und Bauern, Menschen mit Fach- oder Hochschulabschluss geworden waren.
Es ging der SED aber nicht nur um den Produktionsprozess in der Werkhalle, auf dem Feld oder im Büro, sondern es ging um den ganzen Menschen. Deutlich zeigen das Ulbrichts zehn Gebote:
Sechs Gebote fordern ein Verhalten, das der Produktion förderlich ist. Ein Gebot berührt die Außenpolitik, eins die Verteidigungsbereitschaft. Zwei Gebote jedoch reichen bis tief ins Privatleben:
Das achte und das neunte Gebot lauten:
Du sollst deine Kinder im Geiste des Friedens und des Sozialismus zu allseitig gebildeten, charakterfesten und körperlich gestählten Menschen erziehen.
Du sollst sauber und anständig leben und deine Familie achten.
In den Archiven werden zeitgenössische Dokumente aufbewahrt. Solche Dokumente können dann später gelesen und ausgewertet werden. Und Parallelen können gezogen werden. Das ist das Studium der Geschichte.
Wir Nachgeborenen sind privilegiert beim Studium alter Quellen. Wir wissen, was geworden ist, aus dem jeweiligen Geist der Zeit, den die Dokumente zeigen. Wir wissen um die Folgen und wir können lernen für unsere Gegenwart.
Zum Studium der Quellen stöhnte der Assistent von Doktor Faust in Goethes Tragödie erster Teil:
„Ach Gott! die Kunst ist lang;
Und kurz ist unser Leben.
Mir wird, bey meinem kritischen Bestreben,
Doch oft um Kopf und Busen bang'.
Wie schwer sind nicht die Mittel zu erwerben,
Durch die man zu den Quellen steigt!
Und eh' man nur den halben Weg erreicht,
Muss wohl ein armer Teufel sterben."
(Goethe, Famulus Wagner im Faust I)
So schlimm ist es nicht, wie Goethe schreibt: Zum Kreisarchiv in der Mühlhäuser Bonatstraße 50 führen nur acht Stufen nach unten. Jeder kann kommen. Dienstags und Donnerstags ist geöffnet.
Michael Zeng
PS: Wie immer vielen Dank an Volker Mock, der die Archivalie des Monats ins Internet bringt.